

Von der Spiegel-Metapher zum Focus-Konzept
Diskussion der Erzählperspektive
pp. 71-104
in: , Romantheorie und Erzählforschung, Stuttgart, Metzler, 2005Abstract
In Le Rouge et le Noir, einer fiktiven Chronik aus dem Jahr 1830, schrieb Stendhal (1783–1842): »ein Roman ist ein Spiegel, der sich auf einer Landstraße bewegt. Bald spiegelt er das Blau des Himmels wider, bald den Schlamm und die Pfützen des Weges.« Die Metapher des Spiegels lässt wenigstens zwei Deutungen zu: Sie kann als Bild für eine realistische Erzählweise genommen werden, die neben den schönen auch die hässlichen, neben den erhabenen auch die niedrigen Seiten der Welt darstellt. Wichtig am Spiegel ist so gesehen, dass er keine blinden Flecken hat, und dass man ihm nicht vorwerfen kann, wie die Welt in ihm ausschaut. Tatsächlich wird die Spiegelmetapher genau in diesem Sinne von Stendhal gebraucht. Er fährt nämlich an jenen Leser gewandt, der den Romancier der Immoralität bezichtigt, fort: »Klagen Sie lieber die Straße an, auf der sich die Pfütze befindet, oder besser den Straßeninspektor, der das Wasser sich aufstauen und die Pfütze sich bilden ließ.«