

Subjektivität in der Lyrik
"Erlebnis und Dichtung", "lyrisches Ich"
pp. 299-310
in: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Weitz (eds), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Metzler, 1995Abstract
Das vieldiskutierte ›lyrische Subjekt‹ und das Schema von ›Erlebnis und Dichtung‹ sind noch immer zentrale Begriffe für die Interpretation und Theorie von Lyrik. Sie entstammen ursprünglich einer Vorstellung von Lyrik, die Gedichte als den Ausdruck einer individuellen, selbstreflexiven und erlebenden Seele begreift, als ein Zur-Sprache-Kommen des Inneren. Daß diese Vorstellung nicht nur angesichts der ›Enthumanisierung‹ in der modernen Lyrik prekär geworden ist, sondern auch den Bereich der Lyrik extrem verengt, hat dem Gebrauch dieser Begriffe aber keinen entscheidenden Abbruch getan. In der neueren Lyrik-Forschung seit 1970 werden sie allerdings eher heuristisch (und nicht mehr als Bestimmung der Gattung) gebraucht: sie dienen als Leitbegriffe für die Analyse lyrischer Subjektivität, ohne deren Wesen von vornherein festzulegen. Ihre problematische historische Angemessenheit schlägt sich in solchen Studien nieder als ein Schema von Aufstieg und Niedergang des lyrischen Subjekts: etwa bei Gryphius noch unentfaltet in religiöser Transzendenz und rhetorischer Regelhaftigkeit — bei Benn schließlich zerstört in der Desintegration und Entpersönlichung des Ich und seiner Sprache (vgl. z.B.Sorg 1984, Feldt 1991, Spinner 1975). Als Höhepunkt und vollste Entfaltungsform lyrischer Subjektivität gilt in der germanistischen Diskussion, auf die ich mich hier beschränke, die (frühe) Lyrik Goethes, der als Dichter, vor allem aber auch als Verwalter und Interpret seiner eigenen Texte dieses Verständnis von Dichtung prägte und seit Diltheys Studie Das Erlebnis und die Dichtung (1906) als »klassisches Beispiel« der ›Erlebniskunst‹ fungiert (Dilthey 1906/1957, 120).